Ich lese es heraus aus deinem Wort...

Ich lese es heraus aus deinem Wort,
aus der Geschichte der Gebärden
mit welchen deine Hände um das Werden
sich ründeten, begrenzend, warm und weise.
Du sagtest leben laut und sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein.
Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.
Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise
und ging ein Schrein
und riß die Stimmen fort,
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

Rainer Maria Rilke  (1875-1926)

Aus: Das Stundenbuch / Buch vom Mönchischen Leben (1899)



www.sternenfall.de · 30.7.2006 · info@sternenfall.de
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