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31. Dezember 1937 in Duisburg † 7. Dezember 1979 in Hamburg
Leben und Werk
Deutscher Schriftsteller. Mit Peter Handke, F. C. Delius, Günter Herburger und Rolf Dieter Brinkmann
gehörte Nicolas Born in den siebziger Jahren zu den Vertretern der "Neuen Subjektivität", auch
genannt: die "Kölner Schule".
Kindheit und Ausbildung
Geboren 1937 als Klaus Jürgen Born. Aufgewachsen im deutsch-holländischen Grenzgebiet bei
Emmerich. 1940 wurde der Vater Hans-Werner Born (1905-1978) zur Wehrmacht eingezogen und nahm am
Russlandfeldzug teil. 1944-1952 besuchte Born die Volksschule in Praest. Im Februar 1947
kehrte der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Mit dem Volkschulabschluß schloß Born die
Schule ab. 1952-1963 Lehre und Arbeit in Essen als Chemigraf (seit 1998 ein ausgestorbener
Beruf), auf Vermittlung des Vaters. Während unbezahltem Urlaub unternahm er ausgedehnte Reisen in
die Schweiz, Italien, den Balkan, Türkei, Griechenland, Syrien.
1959 Begegnung mit Ernst Meister, seinem großen Vorbild. 1961 heiratete er Christel
Martinc. 1962 wurde seine erste Tochter Undine geboren. 1963 änderte er seinen Vornamen auf
Vorschlag von Ernst Meisters Frau Else (alias: Alice Koch) auf Nicolas. Dies sollte sein
Künstlername werden: Nicolas Born. Seit 1963 arbeitete Born als freier Schriftsteller. 1965
Scheidung von seiner Frau und Umzug nach Berlin. 1966 arbeitete er mit Anderen im "Wahlkontor" der
SPD, um mit Texten ein wenig Geld zu verdienen. Mit "Ein weicher Kanzler macht die Mark nicht wieder
hart" soll er den Neid einiger Mitdichter erregt haben.
1968 heiratet er die Ärztin Irmgard Masuhr.
Der Dichter
Von 1969-1970 absolvierte Born das Stipendiat des Writers Workshop der Universität of Iowa/USA;
seine Frau begleitete ihn. 1970 Begegnung mit Herbert Marcuse in den USA. Im November 1970, nach
ihrer Rückkehr, wurde die Tochter Rike Marie geboren. 1972 zusammen mit Rolf Dieter Brinkmann
Stipendium an der Villa Massimo in Rom. 1973 wurde die zweite Tochter Katharina geboren. 1975
wurde Born Mitherausgeber des Rowohlt Literaturmagazins. Im Oktober desselben Jahres wurde er in
die Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur aufgenommen.
Im Juni 1976 hielt Born die Laudatio auf Ernst Meister zur Verleihung des Petrarca Preises. Am
2. September 1976 brannte sein Landhaus in Langendorf ab. Viele Manuskripte, Entwürfe und Bücher
Borns sowie fast der gesamte Besitz der Familie verbrannten. Zu gleicher Zeit wurde in Langendorf
ein Atomkraftwerk geplant, und das Nachbardorf Gorleben zum Standort für ein nukleares
Entsorgungszentrum erklärt. Born hielt eine Rede vor 20.000 Menschen: "Liebe Freunde, wer uns
entsorgen will, den wollen wir stillegen!"
1978 Umzug nach Breese bei Dannenberg. Im gleichen Jahr wurde Born zum Stadtschreiber von
Bergen-Enkheim ernannt. Im März 1979 brach die Krebserkrankung (Lungenkrebs) aus, an der er noch
im selben Jahr, am 7. Dezember 1979 in Hamburg starb. Wenige Wochen zuvor erschien sein Roman "Die
Fälschung".
Bis heute widersetzt sich Born jeder Einordnung als Alltagslyriker, schöngeistiger Poet, Utopist,
Naturlyriker oder gar Aufklärer. Obwohl Born zu seiner Zeit als Schriftsteller außerordentlich
bekannt war, hat man ihn doch nach seinem frühen Tod praktisch vollständig vergessen. Oder verlor
einfach die Lyrik selbst jene ungeheure Aufmerksamkeit, die ihr in den 60er und 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts zuteil wurde? Heute sind Borns Gedichtbände seit vielen Jahren vergriffen
und nur noch mit Geduld und Glück in Antiquariaten zu finden.
Auszeichnungen
1972 Stipendium an der Villa Massimo in Rom und Berliner Förderungspreis der Literatur. 1973
Förderpreis Literatur Berlin. 1977 Bremer Literaturpreis, 1979 Rainer-Maria-Rilke-Preis für
Lyrik. 2005 Peter-Huchel-Preis (posthum, nach dem von seiner Tochter Katharina Born 2004
herausgegebenen Buch "Nicholas Born: Gedichte").
Born war Mitglied des Internationalen Schriftstellervereinigung "Poets Essayists Novelists"
(P.E.N.), der "Akademie für Wissenschaften und Literatur in Mainz", der Akademie für Sprache und
Dichtung in Darmstadt und ab 1975 Mitglied der Jury des Petrarca-Preises.
Nach seinem Tod benennt das Land Niedersachsen einen Literaturpreis nach ihm. Born zählt heute zu
den bedeutensten Schrifsteller der deutschen Nachkriegsliteratur.
Borns Sprache
Nicolas Born gilt Vielen als der bekannteste Vertreter der "Neuen Subjektivität". Man sagt dieser
literarischen Strömung nach, Alltagslyrik und "Gebrauchstexte" geschaffen zu haben. Alltagslyrik
gibt es m. E. durchaus, z.B. als Songtext und oft genug unfreiwillig in den Medien, da verdichtete
Sprache zwangsweise entsteht, wo niemand länger als 45 Sekunden sprechen darf. Doch Born schrieb
keine Gebrauchstexte - seine Gedichte sind echt, sie nutzen sich nicht ab. Seine bildreiche,
wahrnehmende Sprache ist oft erstaunlich einfach und formstreng, d.h. um Widerspruchsfreiheit bemüht
("Ich, Born, Sohn des Born"). Obwohl diese Sprache scheinbar nichts verbirgt und direkt anspricht,
scheint sie dennoch tief und kunstvoll.
Der Alltag, diese eigentliche Domäne des Subjekts, interessierte Born nicht als ein reiner
Beobachter, Aufpasser oder gar Reporter. Er verband stattdessen Wahrnehmungen, Gedanken,
Empfindungen und Phantasien zu etwas in einem anderen Zusammenhang, in der kunsteigenen Realtität.
Dass er sein Material dem Alltag entnimmt spielt keine Rolle. Schließlich ist die Welt für den
Dichter überall erwähnenswert.
Indem Born den Alltag verfremdet und zur Kunst macht kritisiert er ihn -- indem er ihn als etwas
beschreibt das er nicht selbst machte. Born schuf so erstaunlich vitale Kunst die rückhaltlos den
Zeitgeist der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts überlebt. Zum Beispiel sagt er vor
fast 40 Jahren etwas zum formalisierten und wohlgeordneten Leben das er vorfindet -- und schafft ein
geflügeltes Wort:
Die Bauten um uns
über uns die Bauten
Wir sind still geworden
unter Dach und Fach
Die Direktheit der Born'schen Sprache ist manchmal verblüffend. Zum Beispiel mit den Anfangsversen
von Das Verschwinden aller im Tod eines Einzelnen:
Mache ich mich mit zu großer Hand?
lebe ich zu sehr aus der überfüllten Luft
und brauche ich zu viele andere
und schneide ich das Wort ab dem
der es braucht
und lasse ich es hell und dunkel werden
in die eigene Tasche?
...
Mit wenigen, fast beiläufig ausgesprochenen Worten, und ganz ohne Einleitung in eine Geschichte,
hebt der Dichter seinen Protagnisten direkt an den Höhepunkt des Gedichts -- also an den Wendepunkt,
an dem sich das Subjekt seiner selbst in neuer Deutlichkeit bewußt wird. Born erklärt nicht erst
wie es dazu kam. Denn schon der Titel legt nahe: dieser Wechsel in eine andere Wahrnehmung gleicht
einem persönlichen Tod, einem Wandel -- oder (im Wechsel der Perspektiven) eben dem "Verschwinden
aller"; sie können nicht mehr wahrgenommen werden wie bisher.
Das ist der große Vers in vielen Born-Gedichten. Er wendet sich lebendig in die Kunst, einiges
geschieht, dann kehrt er um. Schon Goethe das gemeint, als er sagt: "Siehst du nicht an meinen
Liedern, daß ich eins und doppelt bin?". Für Born ist die Erfahrung der Kunst ein Eingriff am
Subjekt: sie hat etwas mit ihm gemacht. Hier der Beginn von Im Innern der Gedichte
Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
...
Indem er behauptet, man könne nicht bloß an der Wirklichkeit leben ruft Born die Kunst ins Leben.
Der Eingriff der überlebt werden kann, ist, sich bewußt unter das (noch) unscharfe Messer der Kunst
zu legen. Wer das überlebt - als Künstler oder Konsument - kehrt zunächst in sein Leben zurück.
Doch seine Wahrnehmung wurden durch die Wasser und das Licht der kunsteigenen Realität gezogen. In
diesem Wechsel veränderte sich die Vorstellung - doch die Bedeutung blieb dieselbe. Und so endet
ein Gedicht. Born hält die Töne, mit denen er ein Gedicht begann, bis an ihr Ende.
Ich finde, das zeichnet ihn vor vielen aus. Dieser Dichter arbeitet sich nicht bis zu einer Moral
vor, die er am Ende des Textes einer Fackel gleich entzündet, und die alles Geheimnisvolle der
vorhergehenden Zeilen in ihrem Licht zur bloßen Rethorik macht. Solche eine Entzauberung findet bei
Born nicht statt.
Interessanterweise gleicht der Prozess einer fast alltäglichen Erfahrung, die fast jeder wiederholt
im Leben macht: verliebt sein. Im Moment, da man liebt, erleidet man ein
Nicht-Mehr-Sich-Selbst-Sein, und findet man sich "danach" verändert wieder vor. Nach der "Rückkehr
ins Leben" (ins Selbst) ist man nicht mehr derselbe. Zudem erzeugt ein Nicht-Mehr-Geliebt-Werden
(durch den Tod des Partner, durch Verlassen-Werden, durch Liebeskummer) die Ur-Angst vor der
Auflösung des Selbst (keine Rückkehr ins Leben mehr möglich). Irgendjemand muß damit begonnen
haben, diesen Verlust des Partner zu "theatralisieren": etwa, in dem er ein Steinsymbol
o.ä. angefertigt hat. Das gilt als eine Ursache für die Kunst beim Menschen. Nach einer solchen
Verarbeitung des Kummers beginnt wieder die Zeit des Wartens - und alles fängt von vorne an.
Es kann übrignes sehr authentischen wirken, wenn der Künstler das Werk fluchtartig verlassen muß!
Vielleicht weil er nicht mehr sagen kann. Eines der eindrucksvollsten Beispiele für einen solchen
Rücksturz ins Leben gelang Eugenio Montale, als er ein Gedicht mit den Worten schloß: "Der Seher ist
tot. Es lebe der Vernichter".
Wessen Vorstellung bin ich?
Mit oder ohne Moral bleibt immer die Frage offen, was Kunst eigentlich sei. Eine fremde Realität?
Die bunten, verblassenden Brüche jenseits der Schnittmengen unserer gemeinsamen Wahrnehmung? Die
Anfangsverse von Borns Gedichts Lebensläufe bezeugen die menschliche Furcht vor fremden
Realitäten. Sie steigert sich hier bis an die Idee einer Kunst-an-sich, einer absolute Kunst ohne
jede Wirklichkeit (also ohne eigenes Leben):
Wessen Vorstellung bin ich?
wessen Veranstaltung?
Waren sie interessant oder nur notwendig
die Erfahrungen vor meiner Zeugung?
Muß ich jetzt weiterleben als ein kleines
angstvolles Buch?
...
Damit wird die Kunst nicht nur als Verfremdumg der Wirklichkeit wahrgenommen, sondern als
Entfremdung von sich. Durch Umstände schon "vor meiner Zeugung" sieht das lyrische Ich: es gerät
in eine offene Wirklichkeit. Diese wird als so fremd empfunden und dargestellt, daß sie sogar die
Vorstellung eines Anderen sein könnte. Die "Zeugung" ist der Moment in dem das Ich "wird", d.h. zu
höherer Erkenntnis gelangt. Nun erst bemerkt es seine ganze, fragwürdige Gegenwart. Was also bin
ich... nicht grundsätzlich, sondern gegenwärtig?
Auf den Punkt gebracht, warum soll ich denn "weiterleben"? Vielleicht einsam, gewiss liebend, aber
eigentlich tot? Anscheinend werde ich von Außen beschrieben, von etwas Größerem; beschrieben wie
ein Buch. Das erzeugt die Furcht vor der Zukunft. Die Kunst wird durch eine solche Sicht auch als
etwas entschleiert das man nicht kontrollieren kann.
Geschichten aus dem Wahnsystem Realität
Mit dem Gedichtband "Das Auge des Entdeckers" (1970) begann Born zunehmend dem Alltäglichen Träume,
Sehnsüchte und Utopien entgegen zu setzen. In den Nachbemerkungen des Bandes schreibt er: "Ich gebe
zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön
geworden."
Der große Vers bei Born blieb die Hinwendung zur Kunst, das Erkennen und die Rückkehr. Kurz, der
Dichter erzählt in seinen Gedichten... Geschichten! Was ist damit gemeint?
Es scheint so zu sein, dass sich Menschen nur Geschichten erzählen können, egal mit welcher Kunst.
Die beschränkte Übersicht der Menschen über die Welt nimmt dabei eine Entfremdung nicht übel, nimmt
sie sogar im Gegenteil dankbar hin als eine Täuschung der Sinne und des Verstandes; kurz, als ein
Spiel. Also als eine Summe von Möglichkeiten unter denen das tatsächlich Geschehene / Gesehene nur
Eines ist.
Wenn man sich also denken kann, daß auch Gedichte eigentlich Geschichten sind, die von Menschen über
Menschen erzählt werden, dann teilen Gedichte sich auch das Grundthema mit Geschichten. Alle
Geschichten haben dieselbe Urform: jemand unternimmt eine Reise, überlebt und kehrt zurück um von
seinen Erlebnissen zu berichten. Wer sonst!? Die nicht zurückkehren berichten nicht und die
daheimblieben wiederholen sich nur. Mir scheint das ist das Eigentliche der sogenannten
"Alltagslyrik": da ist einer der den Alltag überstand - ohne an ihm zu verzweifeln, ohne sich zu
verleugnen, ohne "normal" zu werden. Er kehrt zurück, nun kann berichten. Vom Alltag; der verbirgt
alle Schrecken. Nicolas Born war also eigentlich ein Überlebender des - wie er es selbst nennt -
"Wahnsystem Realität".
Es besteht allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen Geschichten und Gedichten. Während
eine Geschichte eine zeitliche Abfolge hat tauscht das Gedicht sich gegen die Zeit selbst ein. Es
bespricht die Gegenwart während es sich an die Zukunft richtet. Der Dichter benutzt also eigentlich
seine Sprache um sich in der Zukunft ausdrücken zu können. Er möchte eigentlich die Vergangenheit
noch in der Zukunft erfahrbar machen. Denn die Zukunft ist ihre einzige Zuflucht. Dort kann sie
noch eine Erzählung sein; wenn sie schon nicht mehr sein kann wie sie doch war. Wenn ihr Alltag,
ihr Drum und Dran fort sind.
Da auch der Dichter nichts Gewisses von der Zukunft weiß schreibt er wie auf virtuellem Papier; er
verlässt die Sphäre der "gesicherten Wahrnehmung." Er beginnt Fragen zu stellen. Sein
Naturgedicht schließt Born so mit dem Vers:
...
Was bedeutet es daß ich Gedichte mache
und daß du lauter Geschichten machst?
Das lyrische Ich macht nur Gedichte und sieht ein Du... das Geschichten macht. Wo grenzen sich
beide ab? Nur in der Kunst; also im Unfaßbaren. Die Abgrenzung ist somit weder deutlich noch
widerspruchsfrei. Künstler sind also keine Propheten. Wer eine prophetische Qualität in sich wüßte
schweigt ohnehin besser, oder er kann doch nicht absehen was seine Worte auslösen. Aber ein
Künstler ist immer ein Kritiker der Verhältnisse. Er arbeitet an sich bis er Formen findet. Dann
kann er alles sagen. Er kann sich sogar widersprechen. Mehr noch: er kann gar mit jedem Strich den
er tut neu beginnen. Born sagt
...
dies alles ist
der Beweis für etwas anderes.
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